6:00
Luft, ich brauche Luft. Hier war doch eben noch die Wasseroberfläche – wo ist die hin? Zwei verdammt lange Sekunden später strecke ich endlich den Kopf wieder aus dem Wasser. Puh. Das war lang. Jetzt schnell das Surfbrett finden, um mich daran festzuhalten.
Normalerweise kann ich die Wellen mittlerweile ganz gut einschätzen und weiß, wie lange ich ungefähr unter Wasser sein werde. Heute klappt das leider nicht so gut. Heute ist sowieso irgendwie alles ein bisschen anders.
Die ersten Wochen in der Schule habe ich Surfunterricht genommen – das war nicht nur hilfreich, sondern hat auch echt Spaß gemacht. Die Surflehrer hier geben sich Mühe, sind aufmerksam, erklären individuell. Bei meiner allerersten Welle stand ich sogar sofort auf. Ich war überzeugt: Das läuft. Zwei Minuten später wusste ich: Wird wohl nichts mit der Profikarriere.
Ich bin kein Naturtalent. Aber ich hab Spaß. Und ich tröste mich damit, dass die richtig guten Surfer bei den Wettbewerben hier ungefähr halb so viel wiegen wie ich. Es liegt also nicht an mir. Sondern an meinen schweren Knochen.
6:01
Yikes, da kommt die nächste riesige Welle, die jeden Moment brechen wird. Paddeln, paddeln, paddeln! Das schaff ich noch! Paddeln, paddeln! Noch hab ich ein paar Sekunden Zeit. Paaaaaaddeln!
BÄM! Mit voller Wucht bricht die Welle direkt über meinem Kopf. Ich werde vom Brett gerissen und wild durchs Wasser geschleudert. Für einen Moment weiß ich nicht mehr, wo oben und unten ist – bis ich einen stechenden Schmerz in meiner rechten Hand spüre. Aua! Ich habe mir mit meiner eigenen Finne die Hand aufgeschlitzt. Na immerhin: Wenn das Brett da ist, ist da wohl oben.
Wenige Sekunden später liege ich wieder auf dem Brett, betrachte meine Hand. Nicht schön. BÄM! Ich hab mich zu lange mit der Wunde beschäftigt – nächste Welle, nächster Volltreffer.
Okay, Schluss mit Denken. Wenn ich hier lebend raus will, muss ich paddeln. Und zwar jetzt!
Nach ein paar Wochen habe ich den Surfkurs abgewählt – Geld sparen. Jetzt gehe ich „privat“ surfen. Mit Freunden, ohne Lehrer. Das ist deutlich günstiger – aber hat halt auch Nachteile.
In Jacó waren die Wellen klein – perfekt für Anfänger. Aber meinen Freunden, die schon seit Jahren surfen, ist das zu langweilig. Also fahren wir meistens 10 km nach Süden nach Hermosa. Schöner Strand, keine Touristen – und für mich: Monsterwellen. Zumindest fühlt es sich so an.
6:20
Ich hab’s geschafft! Weit draußen. Endlich. Ich setze mich auf das Brett, atme durch. Eigentlich wollte ich zehn Minuten Pause machen – aber da ruft ein Freund: „Daniel, das ist deine Welle, die ist perfekt!“
Ich sehe zwar nichts, aber hey – wird schon stimmen. Brett drehen, paddeln.
Ich spüre, wie die Welle anzieht. Und weiß sofort: Das wird nichts. Ich bin zu langsam. Keine Kraft mehr – allein um hier rauszukommen, hab ich fast 30 Minuten gebraucht. Ich paddle, aber sie geht vorbei.
Nicht schlimm, denke ich. War ja erst der erste Versuch heute. Womit ich nicht rechne: Ich bin wieder ein paar Meter zurück in die Zone gepaddelt, in der die Wellen brechen. Und da …
BÄM! Klatscht mir die nächste volle Breitseite ins Gesicht und trägt mich fast zurück an den Strand.
Also – alles von vorne.
Natürlich gilt: Je besser du surfen kannst, desto kleiner dein Brett. Und: je leichter du bist, desto weniger Auftrieb brauchst du. Ich? Brauche Auftrieb.
Und da mir niemand glauben wollte, dass ich meinen federleichten, feengleichen Körper geschmeidig wie eine Gazelle bewegen kann, hieß es: „Oh, Daniel needs a board! Bring out the ‘Big Mama’!“ (In wunderschöner „Release the Kraken“-Manier.)
Die Big Mama ist das längste, breiteste und dickste Brett der Schule. Mehr als 3 m geballte Wasserverdrängung. Ich hab mich dann runtergearbeitet: 9’6, 9’2, 8’6, jetzt 8’4. Als ich das erste Mal auf dem 8’4 saß, war meine Hose unter Wasser, mein Bauchnabel aber noch trocken. Auftrieb deluxe.
Seit ich keinen Kurs mehr buche, bekomme ich natürlich auch kein Brett mehr von der Schule. Und wenn ich schon spare, dann richtig! Ich leihe mir die Bretter meiner Freunde. Die sind alle kleiner. Und alle besser.
Heute surfe ich auf einem 5’10er – das sind 1,78 Meter. Mein ganzer Oberkörper hängt im Wasser.
6:40
20 Minuten und drei Liter Salzwasser später: Ich bin wieder draußen. Ich setze mich auf das Brett, atme tief durch – und merke erst jetzt, wie tief ich im Wasser liege. Kein Wunder, dass ich eben nichts gesehen habe. Neben meinem Kopf gucken nur noch meine Schultern raus.
7:00
Noch zwei, drei Versuche – alle kläglich gescheitert. Das ist kein Surfen heute. Das ist Überlebenskampf.
Ich bin fix und fertig. Arme wie Gummi. Gesicht und Nacken brennen. Meine Hand blutet. Ich hab gefühlt den halben Ozean getrunken – und bin noch keine einzige Welle geritten. Also nicht von oben. Von unten hab ich viele gesehen.
Viel lieber würde ich jetzt zu Hause sitzen und frühstücken. Mmmh, Frühstück.
„Los Daniel, jetzt aber! Die ist echt gut!“ Ich dreh mich um, paddle los. Alles tut weh. Aber ich gebe alles.
Die Welle kommt. Ich stehe auf. Drei Sekunden. Dann fall ich.
Aber: Ich stand! In Hermosa! Auf einem 5’10er!
Vielleicht hat jemand am Strand gelacht. Drei Sekunden sind schließlich nichts. Mir egal. Ich grinse. Und paddle direkt wieder raus.